Martin Winter

Seine Chemielehrerin bescheinigte ihm in der Schule lediglich gute Leistungen – nicht mehr und nicht weniger. Heute ist Martin Winter das Gesicht der deutschen Batterieforschung. Die Erfolgsgeschichte eines Mannes, der sich an die Fakten hält und seinem Bauchgefühl folgt.

Der Nachbar brachte den Stein ins Rollen: Der war mit Herzblut Lebensmittelchemiker und begeisterte den Oberstufenschüler Martin Winter so sehr für die Zusammensetzung von Nahrungsmitteln, dass der sich nach dem Abitur für Lebensmittelchemie in Münster einschrieb. Doch der anfängliche Funke erlosch irgendwann im Studium: Winter merkte, dass ihm die Analytik von Lebensmitteln allein nicht interessant genug war. „Und in Botanik musste ich sehr viel auswendig lernen, das war so gar nicht meins“, erzählt er, lehnt sich zurück und lacht. Der 54-Jährige sitzt in der „Besucherecke“ seines Büros. Jeans, Hemd, hohe Stirn, wache Augen, die sein Gegenüber im Blick behalten. Ehrenprofessorwürden, Urkunden und Auszeichnungen an den Wänden erzählen von Leistungsbereitschaft, Engagement und einer gehörigen Portion Ehrgeiz: „Ich habe immer viel gearbeitet, das gebe ich zu. Aber der Einsatz hat sich rentiert: Die Zahl der Erfolge überwiegt die der Misserfolge bei Weitem!“

Der blütenweiße Kittel hängt ordentlich an der Garderobe, eine sortierte Bücherwand, daneben ein übersichtlicher Schreibtisch, alles wirkt aufgeräumt. Da passt es ins Bild, dass Winter ein Faible für Briefmarken hat – der Chemiker muss angesichts des Eindrucks schmunzeln: „Ich bin eigentlich kein Ordnungsmensch, ich mache mir nur selten Notizen und versuche das Wichtige im Kopf zu behalten.“ Schubladendenken ist nicht seins. Das beschränke den Blick aufs große Ganze. Für ihn sei es eine Lebenseinstellung, Themen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, Pro und Contra aufzuzeigen, um die beste Lösung zu finden. Auf dieser Basis zeichnet er die großen Forschungslinien sowohl am Helmholtz-Institut Münster, einer Jülicher Außenstelle, als auch am „Münster Electrochemical Energy Technology“-Institut (MEET). Sein wichtigster und treuester Begleiter neben seinem glasklaren Verstand: das Bauchgefühl. „Es gibt Situationen, in denen ich alle Fakten zusammengetragen habe, aber doch nicht weiterkomme, da ist mein Bauchgefühl entscheidend.“ In 90 Prozent der Fälle habe er richtig gelegen, „über die übrigen zehn Prozent ärgere ich mich!“

Die Kombination aus Bauchgefühl und Wissen hat dazu beigetragen, dass Winter schon in den 1990er Jahren den richtigen Riecher hat und auf elektrochemische Energiespeicherung und Energiewandlung setzt: Nach dem Abschluss in Lebensmittelchemie studiert er Allgemeine Chemie und setzt sich in seiner Diplomarbeit und Promotion mit Lithium-Ionen-Batterien (LIB) auseinander. Er bewältigt Probleme, die andere zuvor nicht lösen konnten, seine berufliche Karriere nimmt Fahrt auf – ähnlich wie die Erfolgsgeschichte des „Wunder-Akkus“: Dieser entwickelt sich vom handgefertigten Akku über eine serienreife Produktion bis hin zum Marktführer in der Batterietechnik. Winter hat zu dieser Erfolgsstory beigetragen. „Als Begründer der modernen Lithium-Ionen-Chemie sehe ich mich ganz vorne mit dabei: was die Elektrolyte und Anodenmaterialien betrifft, und auch mit unserem systemischen Ansatz, dass man die Materialien nicht einzeln betrachtet, sondern in Wechselwirkung“, erklärt der Professor für Physikalische Chemie. Heute ist er für viele dieser Themen das Gesicht in Deutschland und weltweit.

Bild oben: Vielfach ausgezeichnet: Zahlreiche Urkunden und Ehrungen schmücken die Wände von Martin Winters Büro.

Zur Person

Martin Winter

Martin Winter, Jahrgang 1965, wurde im niedersächsischen Osnabrück geboren. Er ist der Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts Münster (HI MS), einer Außenstelle des Forschungszentrums Jülich. Das HI MS umfasst drei Partner: Neben dem Forschungszentrum Jülich sind das die RWTH Aachen und die Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Der wissenschaftliche Leiter des 2009 gegründeten „MEET“- Batterieforschungszentrums der WWU lehrt Physikalische Chemie. Er arbeitet und forscht seit fast 30 Jahren im Bereich der elektrochemischen Energiespeicherung und Energiewandlung. Sein Fokus liegt auf der Entwicklung neuer Materialien, Komponenten und Zelldesigns für Lithium-Ionen-, Lithiummetall-Batterien und alternativen Batteriesystemen. Mehr als 150 Forschungsprojekte allein in den vergangenen zehn Jahren, 600 Artikel in Fachzeitschriften, Büchern und Tagungsbänden und etwa 70 Patente erzählen von einem Mann, der mit Leidenschaft und Ehrgeiz seine Ziele verfolgt. Sein internationales Renommee spiegelt sich in zahlreichen Auszeichnungen wider.
Im Juni 2019 hatte das Bundesministerium für Bildung und Forschung bekannt gegeben, dass die Wahl für den Standort der geplanten „Forschungsfertigung Batteriezelle“ auf Münster gefallen ist. Winter hatte den Antrag maßgeblich vorbereitet.

Offenheit erwünscht

Kritiker werfen Winter vor, dass er immer noch auf eine Technologie setzt, deren Potenzial ausgeschöpft sei. Winter sieht das anders: Für ihn gibt es noch Forschungs- und Entwicklungsbedarf, etwa um Energiedichte und Kapazität der LIB zu steigern. Dennoch sei es wichtig, offen für andere Ansätze zu sein. „Diese ,Entweder-oder-Perspektive‘ führt am Thema vorbei und schränkt uns im Gesamtblick ein. Je nach Anwendung werden wir künftig unterschiedliche Batteriesysteme benötigen. Daher sollten wir Neues erforschen und Bestehendes besser, sicherer und günstiger machen“, so Winter und fügt hinzu, „diese Offenheit in der Technologiediskussion wünsche ich mir auch von Kollegen in der Batterieszene“.

Nur mit Offenheit sei es möglich, gemeinsam eine nationale Batteriezellproduktion aufzubauen, die in jedem Tortendiagramm für Batteriezellproduktion auftaucht und nicht in der Rubrik „Andere“ verschwindet, so Winter: „Am Ende meiner Karriere sollen die Menschen sagen können, dass die Batterieforschung allgemein von unserem Engagement profitiert hat – bezüglich dessen, dass wir eine nationale Community aufgebaut haben und dass wir viel für die Gesellschaft getan haben – auch um die Wirtschaftskraft und Innovationsfähigkeit im Land zu halten und zu stärken.“

„Es wird viele Batterien der Zukunft geben“

Martin Winter im Interview

Die Liste Ihrer Auszeichnungen ist lang: Im vergangenen Jahr erhielten Sie das Bundesverdienstkreuz, im August 2019 die Faraday Medaille der Royal Society of Chemistry und im September den Arfvedson-Schlenk-Preis der Gesellschaft Deutscher Chemiker. Was bedeuten Ihnen Preise?
Preise tragen zur Verbesserung der Sichtbarkeit der deutschen Batterieforschung bei, im Land und international. Aber das Bundesverdienstkreuz war schon etwas Besonderes, weil es mir ja für meinen Einsatz für den Aufbau der Batterieforschung hierzulande verliehen worden ist. Die Faraday Medaille erfreut mich besonders, da sie zu Zeiten der Brexit-Diskussion die ungebrochene Verbundenheit der Wissenschaftler untereinander herausstreicht. Und der Arfvedson-Schlenk-Preis ist eben der Lithium-Chemie-Preis – der ist mir persönlich wichtig, da ich mich mein ganzes Forscherleben schon mit Lithium- und Lithium-Ionen-Batterien beschäftige.

An Ihrer Garderobe hängt der weiße Schutzkittel. Forschen Sie noch im Labor?
Ich gehe ins Labor und überrasche meine Mitarbeiter mit meiner Anwesenheit. Oder ich schimpfe, wenn nicht aufgeräumt ist. Sichtbarkeit hilft, um zu motivieren! (lacht) Aber seit über 20 Jahren stehe ich nicht mehr aktiv im Labor – das ist auch besser so, ich würde, weil ich aus der Übung bin, wahrscheinlich nur Blödsinn machen. Was jedoch die großen Forschungslinien betrifft, da stecke ich nicht nur mitten drin, sondern ich bestimme sie maßgeblich mit. Aber ich promote keine Themen, die ich nicht für wichtig erachte, und ich springe nicht auf jeden neuen Themenzug.

Was sind derzeit Ihre Forschungsthemen?
Neben der Lithium-Ionen-Batterie forschen wir an Lithium-Metall-Batterien mit und ohne Feststoff und an weiteren, alternativen Batteriesystemen. Vor allem die Feststoffbatterie hat auf der Ebene der Elektrolyte in den vergangenen Jahren sehr große Fortschritte gemacht. Da geht es nun darum, das Ganze systemisch anzugehen: Dazu benötigen wir auch viel Prozesstechnik und Charakterisierungs-Know-how, das ist beides zuhauf in Jülich vorhanden, wo wir mit den Kollegen intensiv zusammenarbeiten. Der Löwenanteil unserer Forschung entfällt allerdings mit 50 Prozent auf die LIB. Dabei profitieren wir von der Kooperation mit den Kollegen in Aachen, die die Teile der Wertschöpfung bearbeiten, die eher ingenieurstechnisches Know-how erfordern.

Viele Kritiker sagen, dass die Lithium-Ionen-Technologie ausgereift sei. Sie hingegen sehen sogar noch Optimierungspotenzial...
... ja, auf einer Skala von 1 bis 10 würde ich ihr – mit Blick auf die massentaugliche Anwendung im Fahrzeug – eine 5 geben. Da ist mit Blick auf Performance und Reichweite noch Luft nach oben. Zum Vergleich: Verbrennungsmotoren sehe ich auf der Skala bei 8. Auch hier sehe ich noch Optimierungspotenzial: zum Beispiel eine verbesserte Abgastechnik und weniger Verbrauch. Die Verleihung des Chemie Nobelpreises an John Goodenough, Stanley Wittingham und Akira Yoshino für die Entwicklung der Lithium-Ionen-Batterie wird dieser Technologie einen weiteren Schub verleihen, da bin ich mir sicher. Gerade, wo wir diese Technologie in Deutschland groß umsetzen wollen – sowohl in der Automobilität als auch in der Energiewende. Und wenn wir die Lithium-Ionen-Batterie noch besser verstehen, hilft es uns, andere Batteriesysteme zu entwickeln – das ist wie das kleine Einmaleins in der Mathematik. Wir besitzen für die Lithium-Ionen-Batterie extrem viele Daten und wir wissen sehr gut über die Lebensdauer Bescheid. Diese Erkenntnisse helfen uns, die Herausforderungen für andere Systeme zu meistern.

Warum gibt es so unterschiedliche Aussagen über die Leistungsfähigkeit von verschiedenen Batteriesystemen?
Viele kennen den Unterschied zwischen theoretischer und praktischer Energiedichte nicht – das ist ein großes Problem. Bei der theoretischen Energiedichte schaut sich der Wissenschaftler nur die Zellreaktion an, also die Reaktionsgleichung und die Spannung bei standardisierten Bedingungen – also alles ohne Gehäuse, notwendige Hilfsmaterialien, und unter der meist unrichtigen Annahme, dass die Reaktion hundertprozentig stattfindet.

Ein Beispiel bitte...
… die theoretische Energiedichte einer Lithium-Ionen-Batterie ist mit rund 600 Wattstunden pro Kilogramm sehr klein, aber von dem Wert können wir immerhin fast 50 Prozent praktisch realisieren. Zum Vergleich: Die theoretische Energiedichte von Lithium/Schwefel-Batterien fällt mit fast 2.700 Wattstunden pro Kilogramm deutlich höher aus, aber davon können wir bisher nur etwa 10 bis 15 Prozent praktisch umsetzen. Die Lithium-Ionen-Batterie schneidet also in der Praxis sehr gut ab. Das heißt aber nicht, dass wir andere Batteriesysteme nicht untersuchen und verbessern sollten. Wir dürfen nur nicht sagen, dass sie besser sind, solange das nur durch die Theorie und damit verbundenes Wunschdenken begründet ist. Und was mich besonders stört: Ich lese immer wieder Presseberichte, in denen die praktische Energiedichte von Lithium-Ionen-Batterien mit der theoretisch möglichen von anderen Systemen verglichen wird. Das ist unseriös.

Wie sieht Ihre Batterie der Zukunft aus?
Es wird viele Batterien der Zukunft geben – je nach Anwendung. Eine davon ist mit Sicherheit die Lithium-Ionen-Batterie. Wie groß die künftige Lithium-Ionen-Batterie sein wird und wer die Partner sind, beispielsweise Wasserstoff und Brennstoffzelle, das ist noch komplett offen. Mich stört aber diese „Entweder-oder“-Diskussion.

Wie stehen Sie zu Wasserstoff?
Die Brennstoffzelle ist eine wunderbare Technologie, wissenschaftlich hoch anspruchsvoll, aber sie ist praktisch noch nicht so ausgereift. Ich kann mir gut ein Hybrid-Auto mit Lithium-Ionen-Batterie vorstellen, welches auch mit einer Brennstoffzelle statt Verbrennungsmotor läuft. Aber in Deutschland wird der Verbrennungsmotor noch lange im Einsatz bleiben, weil unsere Industrie nicht so schnell umstellen kann und will.

Warum tut sich Deutschland mit Umstellungen so schwer?
Neben einer außergewöhnlichen Treue zu alten Technologien und einer ausgeprägten Skepsis gegenüber Neuem, ist ein Grund sicherlich: Wir haben so viele politische, gesetzliche und administrative Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, dass wir gar nicht mehr zum Schreiten kommen, sondern uns nur in Trippelschritten vorwärts bewegen können. Das gilt nicht nur für die Batterieforschung, sondern für alle Bereiche. Es frustriert mich, dass wir Jahre für Sachen brauchen, für die wir eigentlich nur Monate benötigen würden. Bedenklich ist, dass dies viele wissen, aber die Situation eigentlich immer schlechter wird.

...Deutschland könnte also mehr leisten?
Ein klares Ja. Dass in China oder in Nordamerika Entwicklungen viel schneller vorangehen, liegt auch daran, dass wir in Deutschland ein Mindset haben, das auf vorsichtiges Handeln ausgerichtet ist, dass wir oft lange abwägen und Entscheidungen aufschieben. Es werden darüber hinaus auch Sachen von vornherein abgelehnt, weil die Menschen Angst haben, es könnte falsch sein!

Haben Sie schon damit geliebäugelt, in die freie Wirtschaft zu wechseln?
Ja, durchaus. Und lukrative Angebote bekomme ich immer wieder. Aber: Ich müsste hier alles im Stich lassen, auch die Menschen, die kommen, weil sie mit mir arbeiten wollen! Und ganz ehrlich: Was wäre ich ohne meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Ich habe zu meinen Kolleginnen und Kollegen, ein partnerschaftliches Verhältnis. Ich duze mich mit Ihnen, ich bin nahbar. Das gebe ich nicht so einfach auf!

Letzte Änderung: 03.05.2022